Bericht: Wahlbeobachtung in der Türkei / Diyarbakir

Marvin Wiegand, unser Landtagskandidat im Wahlkreis Villingen-Schwenningen, war mit einer Delegation der Baden-Württembergischen Partei DIE LINKE zur Wahlbeobachtung in der Türkei. Hier ein Beicht seiner Erlebnisse und Einschätzungen:

Es sollte nicht an euch vorbeigegangen sein, dass in der Türkei vor kurzem erneut das Parlament gewählt worden sind, nachdem das Ergebnis des ersten Anlaufs im Sommer für die regierende Partei AKP nicht zufriedenstellend war und auf Neuwahlen gedrängt wurde. Zusammen mit einer Delegation aus Baden-
Württemberg reiste ich nach Diyarbakir, um diese Wahlen zu beobachten. Zusammen mit drei weiteren Genoss*innen, darunter u.a. auch Karin Binder, wurde ich von unserer Schwesterpartei, der Demokratischen Partei der Völker (HDP), welche uns auch als internationale Wahlbeobachter*innen nach Diyarbakir eingeladen hatte, in den Südosten der Provinz, in die Stadt Bismil geschickt, um dort als „mobile Eingreiftruppe“ an Wahlorte zu fahren, bei denen es Probleme geben könnte (und zum Teil auch gab, z.B. Üztepe, s.u.). Eine weitere vierköpfige Gruppe unserer Delegation wurde damit beauftragt die Wahl in den umliegenden Dörfern zu beobachten. So gab es zum Beispiel in dem Dorf Üztepe, in das unsere Gruppe ebenfalls gerufen wurde, Probleme. Dort war die Wahlurne nicht ordnungsgemäß versiegelt, was von uns ordentlich dokumentiert wurde. 

Die Schulen, in denen gewählt wurde, zu denen wir von einem HDP-Genossen aus Bismil gefahren wurden, gab es beim Wahlablauf kaum Probleme und trotz der enormen Präsenz von schwer bewaffneten Polizisten in der Stadt (und Militäreinheiten in den Dörfern), hatten in den Morgenstunden bereits sehr viele Menschen gewählt, hunderte waren auf dem Weg zu den Wahlurnen. Nachdem wir an einigen Schulen gewesen waren, hatte sich in Bismil bereits das Lauffeuer verbreitet, dass sich internationale Wahlbeobachter*innen vor Ort befanden, um den Ablauf zu überwachen: Das gab vielen weiteren Menschen Mut, sich trotz der Anwesenheit der Bewaffneten ihre Stimme abzugeben, außerdem wurde Hände schütteln ein fester Bestandteil der Tagesordnung. Viele Menschen dankten uns für unsere Anwesenheit und oft mussten wir eine Einladung zum Tee schmerzlich ablehnen.

Am Nachmittag tourten wir mit der Bürgermeisterin Cemile Eminoğlu (BDP) durch die Stadt. Als bei jedem Zwischenstopp mit ihr plötzlich hunderte Menschen um sie herum standen und sie begrüßten, bemerkten wir, welchen großen Rückhalt sie in der Bevölkerung besitzt. Dennoch gelang es uns stets, zügig voran und
zur nächsten Station unserer „Tour“ mit ihr zu kommen. Cemile hatte Glück, denn im Vorfeld der Wahl wurden hunderte Funktions- und Mandatsträger, darunter auch Bürgermeister*innen die der HDP Nahe stehen
inhaftiert, am Wahltag wurden sogar ehrenamtliche Anwält*innen der Partei von der Polizei in ihren eigenen Wohnungen als Geiseln genommen, wie uns am Abendessen mitgeteilt wurde. Direkt neben einem weiteren Wahllokal zeigte sie uns den Ort eines scheußlichen Verbrechens. Vor einem Monat wurden dort Jugendliche enthauptet und anschließend verstümmelt, die Anwohner*innen vermuten hinter der Tat das türkische Militär, welches in den Monaten zuvor zusammen mit der Polizei versuchte die kurdische Bevölkerung im Osten des Landes mit brutalen Einschüchterungsversuchen von der Wahl der HDP abzuhalten. Auch in der Nacht
zuvor wurde in Bismil aus fahrenden Fahrzeugen der Behörden auf Häuser geschossen.

Alleine diese Methoden von Seiten des türkischen Staates lassen es nicht zu, die Parlamentswahlen in der Türkei als „demokratisch“ zu bezeichnen. Man stelle sich vor an einem Wahltag in Deutschland würde es ähnlich ablaufen: Verhaftete, Wasserwefer an jeder Ecke, massive Präsenz von Polizei und Militär,
Beschuss, Anschläge Verletzte, Verhaftete und Tote im Vorfeld. Kaum vorstellbar, oder? Im mehrheitlich von Kurd*innen bewohnten Osten der Türkei aber bittere Realität. Als die Wahllokale geschlossen hatten, besuchten wir an drei Schulen die Auszählungen, welche ebenfalls von bewaffneten Polizisten überwacht wurde. In diesen Schulen wählten bis zu 90% der Stimmberechtigten die HDP, im Umland gab es sogar Dörfer, in denen zu 100% die HDP gewählt wurde. Für die Menschen hier bedeutete die Wahl zwischen AKP und HDP die Wahl zwischen Krieg und Frieden, weshalb so viele Wähler*innen wie möglich mobilisiert worden sind.

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Nach der Auszählung wurden die Urnen von den Wahlkampfleitern, eskotiert von Polizei, Militär und vielen kritischen Bewohner*innen, welche einen Austausch gegen gefälschte Wahlurnen befürchteten, zum Büro des Wahlrichters gebracht, während wir im Büro der HDP einen letzten Tee tanken, bevor wir die Stadt verließen. Kaum waren wir gegen 19:30/20:00 Uhr zurück in unserem Hotel angekommen, wurde im Fernsehen bereits verkündet, dass 70% der Auszählung bereits abgeschlossen wurde.

Unmöglich, urteilte Erhan, welcher für die internationalen Delegationen verantwortlich war und sich mit uns im Hotel befand, da bei der Wahl im Sommer zur selben Zeit gerade einmal 30-40% der Stimmen ausgezählt waren. In einigen Hochburgen der HDP wurden außerdem massive Verluste verzeichnet, welche einfach nicht möglich sein konnten. Zum ersten Mal sprach jemand von aktiver Wahlmanipulation. Einer unserer Gruppen, welche in Silvan die Wahl beobachtete, folgten zwei Unbekannte bis vor das Hotel, von denen wir vermuteten, dass sie Zivilpolizisten waren. Zwei weitere suspekte Personen hielten sich plötzlich auch im Hotel auf und beobachteten uns, was eine bedrohliche Stimmung erzeugte. In unserem Viertel konnte man die Anspannung spüren, für unseren Geschmack und für den, der HDP-Genoss*innen war es viel zu ruhig. Zwar hatte die HDP ihre Anhänger*innen dazu aufgerufen, keine Feste o.ä. in den Straßen zu feiern (Feste, die niemand in dieser Situation hätte feiern wollen), trotzdem war niemand(!) auf den Straßen. Viele Geschäfte und Restaurants schlossen unüblich früh, weil keine Kund*innen mehr kommen wollten und nur mit Mühe fanden wir einen Ort für unser Abendessen.

Im Restaurant stieß Feleknas Uca, eine aus Deutschland stammende HDP Abgeordnete aus Diyarbakir, welche bereits von 1999 bis 2009 für DIE LINKE im Europaparlament vertreten war und uns mehr über die Geschehnisse in der Stadt Diyarbakir und anderen umliegenden Städten und Dörfern, sowie über den Ausgang erzählen konnte. Auch sie erklärte, dass die Auszählung viel zu schnell beendet worden war und in vielen Orten Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung aufgetreten sind.

Zwar konnte die HDP bei den gestrigen Wahlen erneut ins türkische Parlament einziehen und die AKP konnte keine Mehrheitsverhältnisse herstellen, bei denen es ihr möglich wäre die Verfassung im Alleingang hin zu einem Präsidialsystem zu verändern, dennoch sind die Erlebnisse vor und während der Wahl, sowie der bisher ausbleibende internationale Aufschrei, sondern die Anerkennung durch die Bundesregierung und die EU eine herbe Enttäuschung für unsere Genoss*innen vor Ort.

Wie sich die Lage in der Türkei in den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird ist nun im Moment noch nicht abzusehen. Durch die massive Repression und die Wahlmanipulationen ist die Alleinherrschaft der AKP unter Erdogan, die ihr im Sommer verwehrt blieb, nun gesichert. Wie der Friedensprozess in Kurdistan
weiter gehen wird, bleibt vorerst offen.